Die vergessenen Frauen von Aichach

Von 1933 bis 1945 werden in der Frauenstrafanstalt Aichach zahlreiche Frauen von den Nationalsozialisten inhaftiert, viele in Konzentrationslager verschleppt. Jahrzehntelang interessiert sich kaum jemand für sie – bis das Netzwerk Frauenforum Aichach-Friedberg beschließt, einen Erinnerungsort für diese Frauen zu schaffen. Jacoba Zapf, neben Marion Brülls eine der Sprecherinnen des Netzwerkes, berichtet von ihrer Arbeit.

Die Frauenstrafanstalt Aichach. Foto: Sammlung Schneitbach.

Im bayerisch-schwäbischen Aichach, nahe Augsburg, wird im Jahr 1909 eine Haftanstalt für Frauen eröffnet. Sie gilt als moderne Institution. Sie hat zwar »den Vergeltungszweck der Strafe nicht außer Acht zu lassen«, aber »hauptsächlich darauf Gewicht zu legen, dass der Gefangene gebessert wird« so die Hausordnung für Bayerische Strafanstalten von 1921. Dies ändert sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 radikal. Mithilfe neuer Verordnungen und Gesetze schließen sie nach und nach all diejenigen aus der Gesellschaft aus, die nicht in die »Volksgemeinschaft« passen. Männer aus der Region werden in das Konzentrationslager Dachau gebracht, Frauen in die »Korrektionsanstalt« in Aichach. Schnell ist die Haftanstalt, die für 550 Gefangene ausgelegt ist, überfüllt. Im Jahr 1934 sind knapp 700 Frauen dort inhaftiert, 1937 mehr als 800 und 1945 sind es gar 2.000. Frauen werden nicht nur aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in Haft genommen, vielen wird ärztlich die Möglichkeit genommen, eine Familie zu gründen. Ab 1935 werden mehr als 100 Frauen nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, auch im Stadtkrankenhaus Aichach, zwangssterilisiert.

Gefangene beim Hofgang, ca. 1930. Foto erschienen in: Hannelore Friedlein, Wolfgang Mahl, Bettina Völkl-Fischer: Hundert Jahre Justizvollzugsanstalt Aichach, Aichach 2009.

Neben den regulären Strafgefangenen sind in Aichach auch politische Oppositionelle, Jüdinnen, Sintizze und Romnja, Zwangsarbeiterinnen und eine große Gruppe »Sicherungsverwahrte« eingesperrt. Letztere sind Frauen, die meist wegen wiederholter kleiner Eigentumsdelikte nach dem »Gewohnheitsverbrechergesetz« von 1933 verurteilt wurden und nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe nicht in die Freiheit entlassen werden. Sie gelten als Gefahr für die »Volksgemeinschaft«.  

Im September 1942 einigen sich der Reichsführer-SS Heinrich Himmler und Reichsjustizminister Otto Georg Thierack »asoziale Elemente« aus den Justizvollzugsanstalten direkt und ohne Verfahren zur »Vernichtung durch Arbeit« in Konzentrationslager zu überstellen. Das Abkommen betrifft unter anderen Sicherungsverwahrte, Jüdinnen und Juden sowie Sintizze und Romnja. Etwa 20.000 Menschen werden in den folgenden Jahren aus verschiedenen Haftanstalten in Konzentrationslager gebracht. Darunter sind auch 362 Frauen aus Aichach. Ab Ende 1942 fahren unter Aufsicht der hiesigen Polizei und mit Hilfe der Gefängnisangestellten zwei Transporte mit Jüdinnen sowie Sintizze und Romnja nach Auschwitz. Ab Januar 1943 folgen fünf weitere Transporte mit polnischen Inhaftierten, ausgewählten Zuchthausgefangenen und sicherungsverwahrten Frauen, ebenfalls nach Auschwitz. Von knapp 200 der 362 Deportierten sind die Namen bekannt. Von ihnen überleben nur zwei die Konzentrationslager. Ein großer Teil bleibt namenlos.

Während eine Gruppe von Frauen in Aichach in Vergessenheit gerät, treten heute im Landkreis lebende Frauen an die Öffentlichkeit. Das Netzwerk Frauenforum Aichach-Friedberg beginnt in den 1990er Jahren ihr Engagement für Gleichberechtigung und Frauenrechte im Landkreis. Sie organisieren Podiumsdiskussionen, Vorträge, Lesungen und Ausstellungen. Mit den Jahren wird das Netzwerk zu einer bedeutenden politisch-kulturellen Institution im Landkreis. Heute organisiert das Netzwerk Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und ist Gründungsmitglied des »Friedberger Bündnis für Demokratie und Vielfalt«. Sie nehmen sich auch historisch-politischer Themen an: Das Netzwerk setzt sich für die Umbenennung des Gymnasiums in Friedberg ein, die den Namen eines Mannes trägt, der am Tod tausender KZ-Häftlinge beteiligt ist – mit Erfolg: Die Schule wird 2014 umbenannt.

Zwei Jahre später veröffentlicht der Journalist und Autor Rudolf Stumberger erste Artikel zur Geschichte der Gefangenen von Aichach. In seinem kritisch-alternativen Stadtführer »München ohne Lederhosen« ist den »Vergessenen Frauen von Aichach« ein Kapitel gewidmet. Im Netzwerk Frauenforum Aichach-Friedberg findet er Mitstreiterinnen. Sie richten gut besuchte und von der lokalen Presse beachtete Informationsveranstaltungen und Lesungen aus und ermöglichen einigen Angehörigen von ehemaligen Gefangenen den Besuch in der Justizvollzugsanstalt. Mit der Unterstützung des Historikers Dr. Josef Merkl beschäftigt sich das Netzwerk intensiv mit der Geschichte der Frauenstrafanstalt in Aichach in den Jahren 1933 bis 1945. Er veröffentlicht 2018 einen ausführlichen wissenschaftlichen Artikel zum Thema. Zunehmend melden sich Angehörige ehemaliger Insassinnen der Strafanstalt beim Frauenforum. Schnell sind sich die Beteiligten im Frauenforum einig, dass ein sichtbarer Erinnerungsort in Aichach entstehen soll.

Mitglieder des Netzwerk Frauenforum Aichach-Friedberg Foto: Jacoba Zapf

Die Initiative wird im Landkreis positiv aufgenommen und die Stadt Aichach sowie der Landkreis Aichach-Friedberg erklären sich bereit das Vorhaben finanziell und logistisch zu unterstützen. Ein Ort ist schnell gefunden: der Platz vor dem Stadtarchiv und Stadtmuseum. Das Gebäude, das zuvor das städtische Krankenhaus beherbergte, ist der Ort, an dem der Großteil der Zwangssterilisierungen vorgenommen wurde. Im Sommer 2021 schreibt die Stadt einen Wettbewerb für die Gestaltung des Gedenkortes aus und erhält 67 Einsendungen von einer Bandbreite an Künstlerinnen und Künstlern. Vertreterinnen und Vertreter der Stadt, des Landkreises, des Frauenforums und des Staatsarchivs München bilden eine Jury und entscheiden sich für den Entwurf des Künstlerduos Schwarzenfeld (https://www.schwarzenfeld.com/). Raphaela Sauer und Michael Meraner schaffen ein Ensemble aus zwei Stelen, eine aus Marmor, eine aus Graphit.

Bei Berührung der Graphit-Stele bleiben Partikel auf der Haut zurück. Wer sie berührt, wird Teil des Kunstwerks und trägt Erinnerung weiter.

In die Graphit-Stele ist ein QR-Code künstlerisch integriert und führt die Besucherinnen und Besucher, die ihr Telefon zücken, zur Webseite https://vergessenefrauenvonaichach.com/. Das Kunstwerk eröffnet damit eine Zukunftsperspektive, denn es ist sowohl Informationsort als auch Wissensspeicher. Darüber hinaus soll die Webseite Anstoß für Bildungs- und Erinnerungsarbeit sein. Im Juni 2023 wird das Mahnmal eröffnet, die Webseite wird aktuell weiterentwickelt. Im März 2024 werden die Sprecherinnen des Netzwerks, Jacoba Zapf und Marion Brülls, für ihr Engagement – nicht zuletzt für »Die Vergessenen Frauen« mit dem Ehrenzeichen des Bayerischen Ministerpräsidenten geehrt.

Enthüllung des Mahnmals im Juni 2023. Foto: Erich Echter.

An die »vergessenen Frauen« wird nun endlich erinnert – und das nicht nur in Aichach. In Mering, eine halbe Stunde von Aichach entfernt, rekonstruieren Schülerinnen und Schüler des örtlichen Gymnasiums die Biografie von Magdalena Rill. Sie recherchieren Akten, sehen sie im Staatsarchiv in München ein und beantragen die Verlegung eines Stolpersteins. Es handelt sich dabei um im Boden verlegte kleine Gedenktafeln, die an Menschen erinnern, die im Nationalsozialismus verfolgt, deportiert oder ermordet wurden. Im Dezember verlegt der Bildhauer Gunter Demnig, der das Projekt vor 30 Jahren ins Leben gerufen hat, einen Stolperstein für Magdalena Rill in Mering. Das Netzwerk Frauenforum und das Schulprojekt sind durch den Gedenkort und seinen interaktiven Ansatz in Kontakt gekommen. Das Mahnmal ist nicht nur Erinnerungsort – es fördert aktives Gedenken.

Weiterlesen:

Franz Josef Merkl: »An den Rändern der Volksgemeinschaft – Frauenschicksale in der Strafanstalt Aichach 1933 – 1945«, in: Jahrbuch Altbayern in Schwaben. Aichach 2018 (S. 101 – 164).
Rudolf Stumberger: München ohne Lederhosen (kritisch-alternativer Stadtführer, November 1918 bis in die 1960er Jahre). Aschaffenburg 2016.
Nikolaus Wachsmann: Gefangen unter Hitler – Jusitzterror und Strafvollzug im NS-Staat, München, 2006.

In der Zeit des Nationalsozialismus sterilisieren Ärzte zwangsweise etwa 400.000 Menschen. Sie sollen keine Kinder bekommen – die Nationalsozialisten gehen davon aus, dass geistige und körperliche Eigenschaften vererbbar seien. Damit gehen sie gegen Menschen vor, die sie als »minderwertig« ansehen. Etwa 5.000 Menschen sterben an den Folgen des medizinischen Eingriffs, andere werden später in Kliniken ermordet, Hundertausende bleiben staatlich organisiert kinderlos.

Die SS (»Schutzstaffel«) unter der Leitung von Heinrich Himmler versteht sich als elitärer Wehrverband des nationalsozialistischen Staates. Mit der Übernahme und dem Umbau der Polizei durch Himmler wird die SS zum zentralen Terrorinstrument des Regimes. 1934 erhält sie erhält die Kontrolle über sämtliche Konzentrationslager. Das 1939 gebildete Reichssicherheitshauptamt, die Planungszentrale für die Verbrechen im deutsch besetzten Europa, ist ihr zugeordnet.

Als »Gewohnheitsverbrecher« gelten seit den 1920er Jahren Personen, die wegen mehrerer Straftaten verurteilt sind. Bereits Ende 1933 nimmt die nationalsozialsozialistische Regierung diese Personengruppe mit einem eigenen Gesetz ins Visier. »Gefährlichen Gewohnheitsverbrechern« spricht die nationalsozialistische Justiz ab, sich bessern zu können, weil sie Kriminalität für vererbbar hält. Gegen diese Menschen ordnen Richter unbefristete »Sicherungsverwahrung« an. Später werden sie häufig auch als »Berufsverbrecher« bezeichnet.

Menschen werden als »asozial« bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« keinen Platz haben. Das betrifft vor allem Arbeits- oder Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfänger/-innen, Prostituierte oder unangepasste Jugendliche. Ihnen wird vorgeworfen, die Gemeinschaft zu gefährden. Bei ihrer Verfolgung arbeiten Behörden wie Fürsorgeämter, Justiz und Polizei zusammen. Sie schaffen ein engmaschiges Netz aus Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen.

Abkürzung für Konzentrations­lager

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.

Die »Volks­gemeinschaft« ist das nationalsozialistische Ideal des Zusammenlebens von deutschen »Volksgenossen«. Wer dazugehört und wer nicht, bestimmen rassistische Kriterien. Die Ausgeschlossenen werden als »Volksschädlinge« herabgewürdigt. Zu ihnen zählen Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, politische Gegner/-innen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, aber auch »Asoziale« und »Berufsverbrecher«.

Bezeichnung für alle im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten errichteten Haftstätten für politische Gegner/-innen oder Menschen, die zu solchen erklärt wurden. Die Gefangenen sterben an schwerer körperlicher Zwangsarbeit, Unterernährung, Krankheiten, Folter sowie durch gezielte und willkürliche Morde. Die Lager stehen unter Kontrolle der SS (Schutzstaffel). Zwischen 1933 und 1945 waren insgesamt 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen in Konzentrations­lagern inhaftiert.