Wider das Verleugnen: Die Reden der Angehörigen

Liane Lieske: Die Grenze zum Akzeptablen ist die Aufweichung der Menschenrechte

Meine Großmutter Erna Lieske wurde 1900 als uneheliche Tochter eines Dienstmädchens in Pommern geboren. Ihre Mutter starb mit 28 Jahren, da war Erna vier Jahre alt. Sie wuchs in ärmsten Verhältnissen bei ihrem Onkel und Vormund, einem Tagelöhner, auf. Der fiel als Soldat im 1. Weltkrieg 1916, und so ging Erna auf Wanderschaft – mit 16 allein und auf sich gestellt, mitten im Ersten Weltkrieg. Im Laufe der nächsten Jahre wird sie immer wieder delinquent, wenn sie keine Erwerbsarbeit hatte: Sie wird mehrfach verurteilt wegen Bagatelldiebstählen. Hatte sie Arbeit wurde ihr von ihrem Arbeitgeber bescheinigt, dass sie »fleißig« sei und »sehr in Ansehen stand, weil sie eine gute Arbeiterin sei«. Sowohl ihr Arbeitgeber als auch ihre Zimmerwirtin in Hamburg, bei der sie jahrelang wohnte, setzten sich für sie ein. Erfolglos.

Sie bekommt 2 Kinder, 1920 und 1924, die ihr nach der Geburt weggenommen und in ein Pflegeheim bzw. Waisenhaus gebracht werden. Der oder die Väter sind davon. Die Diakonissinnen des Waisenhauses verbieten ihr den Kontakt zu ihrem Sohn und lassen sie nicht zu ihm. So hat mein Vater seine Mutter nie kennen gelernt.

Nach Verbüßen aller Strafen kommt Erna nicht frei, sondern verbleibt im Zuchthaus und wird 1938 zur  Sicherungsverwahrung verurteilt – als »gefährliche Gewohnheitsverbrecherin« mit einem »unbezähmbaren Hang zum fortgesetzten Begehen von Straftaten.«

1943 wird sie vom Frauenzuchthaus und Frauenverwahrungsanstalt Aichach – so heißt das – ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und vier Wochen später ermordet, zwei Tage nach ihrem 43. Geburtstag.

Wir gedenken heute dieser Opfer, zu denen auch meine Großmutter gehört. Als ich vor 10 Jahren durch Zufall  auf einem Gedenkstein, einem Stolperstein für meine Großmutter las: „Erna Lieske, Gewohnheitsverbrecherin“, war das wie ein Schlag ins Gesicht, eine weitere Demütigung.

Nach einem Jahr Auseinandersetzung mit dem Künstler Gunter Demnig hat er sich nach Finden eines neuen Paten für einen neuen Stolperstein und wiederum ohne Rücksprache für folgende Inschrift entschieden:  »Erna Lieske „Schutzhaft“ und „Sicherungsverwahrung«!

Ich hoffe, Ihnen in der Kürze meines Beitrags nahegebracht zu haben, dass meine Großmutter nicht wegen einer Charakterschwäche gestohlen hat, sondern aus purer Not. Trotzdem schämen sich meine Geschwister für ihre Großmutter und ignorieren sie und ihr trauriges Schicksal, obwohl allen die Familie eigentlich sehr wichtig ist.

Dem gesellschaftlich entgegenzuwirken ist diese Ausstellung ein guter Anfang. Aber nicht genug. Wichtig bleibt – vier Jahre nach dem Bundestagsbeschluss – die Forderung an die Bundesregierung umzusetzen, nämlich »Forschungsarbeiten zu den Verfolgungsschicksalen und der noch wenig erforschten Rolle der beteiligten Verfolgungsinstanzen finanziell zu fördern« und: für diese so lange verleugneten Opfergruppen ein Mahnmal zu errichten.

Respekt vor allen Opfern des NS, aber auch vor armen Menschen und allen, die anders sind, in unserer Zeit ist ein anzustrebender Wert. Leider ist es immer noch so, dass arme Menschen sich schämen. Nicht die, die Menschen wohnungslos machen, die Menschen arbeitslos machen – und das nicht aus Not! Wenn also unser Finanzminister öffentlich und unwidersprochen sagt: »Es ärgert mich, dass … in unserm Land Menschen Geld bekommen fürs Nichtstun« – als ein Beispiel – ist das ein Schritt in die falsche Richtung.

Die Grenze zum Akzeptablen ist die Aufweichung der Menschenrechte und die Beschädigung der Menschenwürde, denn dies bedeutet einen Angriff auf die Demokratie!

Mascha Krink: Mit dem Stigma »asozial« scheint automatisch das Wort Scham einherzugehen.

Liebe Anwesende, gemeinsam mit drei weiteren Teilnehmer/-innen möchten wir ein Spotlight auf Opfergruppen des Nationalsozialismus richten, die lange Zeit verleugnet wurden.

Heute darf ich ihnen, im Rahmen dieser besonderen Ausstellungseröffnung, die Geschichte meiner Großeltern, Herbert und Theresa Böhm erzählen. Mein Großvater war von Beruf Zimmermann, er war in Trebnitz geboren und aufgewachsen. Auf der Walz lernte er unsere Großmutter in Niederbayern kennen. Sie heirateten, zogen nach Waldshut wo mein Großvater mit Rohprodukten handelte. Dort kamen die ersten zwei Kinder zur Welt. Aufgrund der Auswirkung der globalen Wirtschaftskrise musste mein Großvater seine Firma schließen. So beschlossen sie sich auf den Weg nach Trebnitz, in Herberts Heimat zu machen, um dort neu anzufangen.  Anhand der Geburtsorte ihrer Kinder konnte ich nachvollziehen, dass sie es auch schafften bis nach Trebnitz. Nur sah die wirtschaftliche Situation dort nicht besser aus.

Wie viele andere in den frühen 1930er Jahren, waren auch meine Großeltern auf den Straßen unterwegs, auf der Suche nach Arbeit – gemeinsam mit Hunderttausenden, die von der Massenarbeitslosigkeit dieser Zeit betroffen waren. Sie waren also Wanderarbeiter, Menschen, die nicht immer einen festen Wohnsitz hatten und ihr Leben damit verbrachten, überall Arbeit zu suchen, um sich irgendwie durchzuschlagen. Die Armut zwang sie zu dem, was die Gesellschaft als »Kleindelikte« bezeichnete: Betteln und vielleicht auch kleine Diebstähle, um zu überleben. Mein Großvater wurde in dieser Zeit insgesamt achtmal verhaftet und bestraft – achtmal innerhalb von 15 Jahren, immer wieder für ein paar wenige Wochen weggesperrt, weil er kein Geld hatte, um die Strafe zu bezahlen. Mit dieser Geschichte stehen Herbert und Theresa für viele Menschen jener Zeit, die durch ein System kriminalisiert wurden, das für Armut keine Lösung, aber umso mehr Strafen bereithielt.

Im Frühjahr 1940, inmitten der Schrecken des NS-Regimes, wurden Herbert und Theresa nach einer Denunziation durch »Nachbarn« die das Fürsorgeamt auf sie angesetzt hatte, gewaltsam in eine sogenannte Arbeitsanstalt eingewiesen. Das war kein Ort, an dem man Menschen helfen wollte, wieder auf die Beine zu kommen. Es war ein Ort, an dem diejenigen, die nicht in das Bild der »Volksgemeinschaft« passten, aus dem Blickfeld verschwinden sollten. Als wäre dies nicht schon Strafe genug, wurden ihnen ihre inzwischen sieben Kinder weggenommen. Der Staat entzog ihnen das Sorgerecht und verhängte ein Kontaktverbot. Die Unmenschlichkeit dieser Entscheidung kann ich kaum in Worte fassen – die Familie unseres damals erst zweijährigen Vaters wurde nicht nur auseinandergerissen, sondern systematisch zerstört. Unsere Großmutter Theresa wurde nach drei Monaten wieder aus der »Arbeitsanstalt« entlassen und kämpfte von diesem Moment an unermüdlich um ihre Kinder und ihren Mann. Doch dieser Kampf war vergeblich. Ihr Ehemann Herbert war mittlerweile als sogenannter »Asozialer« in Konzentrationslager deportiert worden. Erst Sachsenhausen, dann Ravensbrück – Orte, die wir heute mit Leid und Tod verbinden, Orte, an denen Menschenrechte keinen Wert hatten. Herbert hat diese Hölle nicht überlebt.

Theresa, meine Großmutter, kehrte zurück in ein Leben, das geprägt war von Einsamkeit, Verlust und Schmerz. Sie kämpfte jahrelang, um ihre Kinder, und dennoch blieb ihr das Sorgerecht für immer verwehrt. Vereinsamt und tief gezeichnet starb sie mit nur 43 Jahren an Krebs. Eine Frau, die sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als Mutter sein zu dürfen, verlor diesen Kampf gegen ein System, das ihr nie eine Chance gegeben hatte.

Meine Geschwister und ich wuchsen mit einem unsicheren, förmlich zerrissenen Vater auf. Dieses Erbe beschäftigt uns heute noch auf unterschiedliche Weise.

Ich hatte als Kind oft das Gefühl ihn trösten zu müssen.

30 Jahre lang habe ich mich mit der Lebensgeschichte meiner Großeltern auseinandergesetzt, habe recherchiert, Archive durchforstet und geforscht. Das, was ich heute weiß, ist:

Mein Großvater wurde in Konzentrationslagern systematisch ausgebeutet und ermordet. Sein Verbrechen: er war arm und lebte unangepasst.

Bei all der Recherche ist es mir nicht gelungen sein genaues Todesdatum herauszufinden. Die Totenbücher in Ravensbrück haben die Nazis bei ihrem »Rückzug« vernichtet.

Mit meinem jüngsten Sohn, meiner Schwester und dem großartigen Dramaturgen Dirk Laucke erarbeiteten wir einen Podcast zum Schicksal unserer Altvorderen. Wir sind durch mehrere Bundesländer gereist, haben HistorikerInnen befragt und die verschiedenen Stationen unserer Großeltern nachverfolgt.

Trotz unserer Recherchen und des Podcast zur Lebensgeschichte unserer als Asozial stigmatisierten Großeltern zeigt der Großteil meiner Familie sehr wenig Interesse am Schicksal unserer Großeltern. Mit dem Stigma »asozial« scheint automatisch das Wort SCHAM einherzugehen.

Nach dem zweiten Weltkrieg heirateten die drei Schwestern meines Vaters amerikanische G.I.s und wanderten nach Amerika aus. Jahrzehnte später schrieben mich deren Enkel an, nachdem sie in einem Museum auf meine Emailadresse gestoßen waren, während sie nach ihrem Urgroßvater suchten. Nachdem ich ihnen meine Recherchen zur Verfügung stellte, brachen sie den Kontakt abrupt wieder ab. Auch bei ihnen scheint eine tiefe Scham zu bestehen, die zeigt wie dringend es ist, dass die Gesellschaft endlich beginnt, diese Geschichten aufzuarbeiten um zu verstehen wie es dazu kam, und dass eine persönliche Scham völlig deplatziert ist.

Denn die Geschichte meiner Großeltern ist kein Einzelfall. Sie zeigt die grausame Realität eines Systems, das Menschen, die nicht in sein Schema passten, als »minderwertig« stigmatisierte. Es zeigt, wie die Nazis Menschen, die in Armut lebten oder sich nicht in die vorgegebenen Normen einfügten, als »Asoziale« oder »Kriminelle« verfolgten. Diejenigen, über die wir heute durch diese großartige Wanderausstellung erfahren, waren Opfer eines Regimes, das kein Mitgefühl kannte.

Diese Wanderausstellung ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt, um die Geschichten von Menschen wie meinen Großeltern, ins Bewusstsein zu rücken. Ihr Schicksal erinnert uns daran, dass es nicht nur die großen politischen Ereignisse sind, die unsere Geschichte prägen, sondern auch die Lebenswege einzelner Menschen, die von den Mechanismen der Ausgrenzung und Unterdrückung betroffen waren.

Zum Abschluss möchte ich betonen, dass das Erinnern und das Sichtbarmachen dieser Geschichten mehr ist, als ein Akt des Gedenkens. Ich glaube, viele von uns hätten in der damaligen Zeit- unter den damaligen politischen Umständen- als asozial oder kriminell stigmatisiert und verfolgt werden können.

Wir sollten uns stets bewusst sein, wie fragil menschliche Freiheit und Würde sein können.

Daniel Haberlah: Es gibt viele Menschen, von denen wir nie erfahren werden, weil niemand sich ihrer Geschichten angenommen hat.

Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus ist in meiner Familie maßgeblich durch meine Urgroßmutter geprägt. Das klingt für Viele von Ihnen vielleicht weit hergeholt – Urgroßeltern – für mich ist das anders, denn ich bin gemeinsam mit meinen Eltern und meinen Urgroßeltern in einem Haushalt aufgewachsen. Anders als viele ihrer Generation hatte sie keine Hemmungen von ihrer Familie, ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus und im Krieg zu erzählen. Mit diesen Geschichten wuchsen meine Großmutter, meine Mutter und auch ich selbst auf. Eine Geschichte, neben vielen weiteren, handelte von Irmgard Plättner. Das ist die Frau, von der ich Ihnen heute erzählen möchte. Meine Urgroßmutter hat mir als Kind erzählt, dass sie im KZ Ravensbrück umgebracht worden ist. Der Grund, dass sie dort war sei gewesen, dass sie »nicht arbeiten wollte«. Ich habe das als Kind geglaubt, aber ehrlich gesagt, nicht so richtig verstanden und es kam mir immer komisch vor. Warum sollte eine deutsche Frau, verheiratet mit einem Wehrmachtssoldaten von den Nazis in ein KZ gebracht werden? Und dann auch noch, weil sie ‚nicht arbeiten wollte‘ – obwohl ich doch in der Schule gelernt habe, dass die Frau im Nationalsozialismus sowieso nicht arbeiten sollte. Ich nahm das damals so hin, meine Urgroßmutter war über 80 und ich wusste aus der Schule, um die Verklärung der eigenen Vergangenheit im Nationalsozialismus dieser Generation. Ich glaubte nicht, dass sie gelogen hatte, aber vielleicht spielte ihr die Erinnerung einen Streich oder die Gründe waren ihr nicht bekannt oder sie irrte sich einfach – es war schließlich lange her.

Meine Urgroßmutter, Jahrgang 1925, war seit Jahrzehnten letzte Zeitzeugin dieser Geschichte war, denn ihr Bruder, der Ehemann von Irmgard Plättner ist bereits 1976 verstorben. Meine Urgroßmutter selbst starb 2013, kurz bevor ich 18 geworden bin. Obwohl ich 2014 begann Geschichte zu studieren, dauerte es bis ins Jahr 2020, dass mir diese Geschichte wieder begegnete. Meine Urgroßeltern haben relativ viele Dinge hinterlassen, die sentimentalen Wert haben. Meiner Großmutter, meiner Mutter und mir sind diese Dinge sehr wichtig. Darunter befindet sich ein Fotoalbum des Bruders meiner Urgroßmutter. In diesem Fotoalbum sind mehrere Fotos von Irmgard Plättner erhalten. Als ich mir dieses Fotoalbum wieder ansah, dachte ich, es wäre vielleicht jetzt an der Zeit, diese Geschichte aufzuklären oder zu erforschen. Dies bedeutete aber auch, mich mit dem Wahrheitsgehalt dieser Erzählung meiner Urgroßmutter zu stellen. Sich also auch der Möglichkeit zu stellen, dass meine Urgroßmutter, zu der ich ein sehr enges Verhältnis hatte, vielleicht die Unwahrheit gesagt hat. Was sicherlich viele Menschen kennen, die sich mit der eigenen Familiengeschichte im Nationalsozialismus beschäftigen.

Aber das tat meine Urgroßmutter nicht. Irmgard Plättner wurde 1921 als Irmgard Kastner in Braunschweig geboren. Sie war zunächst uneheliches Kind, dann ein Scheidungskind. Sie wurde als 15-Jährige ein Fall für die Fürsorge. Sie kam in ein Mädchenheim in Braunschweig und später in ein Mütter- und Säuglingsheim in Hannover. Denn als 16-Jährige wurde sie Mutter eines Kindes – eines unehelichen Kindes. Dieses Kind wurde ihr weggenommen und in eine Pflegefamilie gegeben. Ab 1940 lebte sie mit der Familie meiner Urgroßmutter, die in armen Verhältnissen in einem Arbeiterviertel in Braunschweig, in einem Haus. Sie und mein Urgroßonkel Hermann Plättner, von allen nur Menne genannt, wurden ein Paar. Im April 1942, kurz nach ihrer Hochzeit und kurz nachdem ihr Mann zur Wehrmacht eingezogen wurde, wurde Irmgard das erste Mal wegen »Arbeitsverweigerung« von der Gestapo verhaftet. Sie wurde zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt und nachdem sie die abgesessen hatte, wurde sie freigelassen. Im März 1944 wurde sie erneut von der Gestapo verhaftet: Der vermeintliche Grund diesmal: »Arbeitsbummelei«. Diesmal kam sie in ein Arbeitserziehungslager – ein sogenanntes Arbeitserziehungslager, denn mit Erziehung hatte es nicht viel zu tun – bei Salzgitter, in das Lager Watenstedt-Hallendorf. Von dort wurde sie, gesundheitlich schon schwer angeschlagen, wahrscheinlich im Mai 1944 ins KZ Ravensbrück gebracht. Dort verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand immer weiter und Irmgard Plättner starb – oder besser gesagt: wurde sterben gelassen und damit ermordet – Ende Februar 1945, also kurz vor Kriegsende im Alter von nur 24 Jahren. Sie gehört damit zu den Menschen, die als sogenannte »Asoziale« Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik wurden. Meine Urgroßmutter hat aber das Wort »asozial« nie verwendet, wenn sie davon erzählt hat. Dort war Irmgard Plättner ein Mensch, wie meine Urgroßmutter, ihre Freunde und anderen Verwandten es auch gewesen sind. Nur sie ist gestorben und die anderen nicht.

Dass Sie heute von dieser Geschichte hören können, ist eigentlich einem Zufall zu verdanken. Irmgard Plättner hatte zwei Freundinnen im Konzentrationslager, eine kannte sie seit ihrer Jugend in Braunschweig, ihre Freundin Ilse Kuhl. Und diese Freundin Ilse hat nach ihrer Haft im Frauen-KZ Ravensbrück meiner Familie und auch den Eltern von Irmgard Plättner von ihrem Schicksal erzählt. Mein Urgroßonkel, der Mann von Irmgard Plättner hat erst 1949 vom Tod seiner Frau erfahren, als er aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückkam. Daraufhin bemühte er sich seine Frau im Rahmen der bundesdeutschen Entschädigungspolitik als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen zu lassen – dieser Antrag war erfolglos, wie Sie sich nach den bisherigen Einlassungen sicher denken können. Aber dieser Entschädigungsantrag ist bis heute erhalten und hat viele wichtige Informationen und Quellen konserviert, die wir heute sonst wahrscheinlich nicht zur Verfügung hätten. Ohne Ilse Kuhl und meinen Urgroßonkel wäre diese Geschichte eigentlich verloren gewesen.

Anders als es leider in vielen anderen Familien der Fall ist, gab es in meiner Familie keine Hindernisse bei der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte. Ganz im Gegenteil: Meine Familie hat mich immer dabei unterstützt und war sehr interessiert – natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Je mehr ich herausfand, desto mehr wollten sie auch wissen. Und nachdem ich erfahren habe, dass das nicht normal ist, bin ich dafür sehr dankbar. Auch wenn ich mit anderen Leuten sprach, traf ich immer großes auf Interesse an dieser Geschichte. Ich stellte aber auch fest, dass wenige Menschen überhaupt von dieser Verfolgung wissen. Einmal ging sogar jemand wie selbstverständlich davon aus, dass Irmgard wohl Jüdin gewesen sein muss, wenn sie verfolgt wurde.

Ich möchte zum Ende darauf hinweisen, dass diese Verfolgungsgeschichte von Irmgard Plättners keine Besondere ist, die in der Zeit des Nationalsozialismus passiert ist. Das Besondere ist, dass ich in diesem Fall weite Teile dieser Geschichte – ich habe nur einen Ausschnitt davon erzählt – rekonstruieren konnte. Trotzdem bleibt ihr Leben unvollständig, eigentlich ein Mosaik. Was sie selbst fühlte und dachte, kann niemand heute wissen. Das einzige Selbstzeugnis ist ein Foto, auf dem steht zum ewigen Andenken an dein Irmchen.

Geschichte ist die Wissenschaft von dem was übriggeblieben ist. Ohne die Mitinsassin von Irmgard im Lager, die ihre Geschichte meiner Familie erzählte, wäre sie vielleicht nach Kriegsende gänzlich verloren gewesen. Ohne den darauffolgenden Antrag auf Entschädigung, gäbe es heute wahrscheinlich keinen Beleg für diese Geschichte. Dadurch lebte diese Geschichte bis in unser Jahrhundert weiter, bis meine Urgroßmutter sie mir um 2010 erzählt hat. Und hätte sie mir davon nicht erzählt, und ich sie nicht erforscht hätte, wer weiß, ob sich jemals jemand dafür interessiert hätte.

Dies zeigt auch die Zufälligkeit der Erhaltung individueller Verfolgtenbiografien von Menschen, die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt wurden. Nicht jedes Schicksal kann heute noch aufgeklärt werden. Daran sollten Sie denken, wenn Sie die Ausstellung, die sehr gut ist, besuchen. Dass es auch viele Menschen gibt, von denen wir nie erfahren werden, weil niemand sich ihrer Geschichten angenommen hat und weil es keine Möglichkeit gibt von diesen Menschen zu erfahren. Da die Geschichten dieser Verfolgten selten und versprengt sind, ist es umso wichtiger, dass sie von einer Forschung aber auch einer Öffentlichkeit, die sich ihre Erinnerungskultur auf die Fahnen geschrieben hat, wertgeschätzt und vor allem wahrgenommen werden.

Hierzu kann die Ausstellung, zu deren Eröffnung wir heute hier sind, hoffentlich einen wichtigen Beitrag leisten, gleichwohl – und das haben Sie auch schon gehört – sie nur der Beginn aber nicht das Ende der weiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik sein kann. Das sage ich Ihnen einerseits als Angehöriger im weitesten Sinne, als Historiker aber auch als Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Vielen Dank.